Warum eine Potenzialanalyse länger als 5 Minuten dauern sollte

Potenzialanalysen sind ein wertvolles Werkzeug, um fundierte Personalentscheidungen zu treffen – sei es in der Auswahl von Führungskräften oder der Entwicklung von Talenten. Doch immer wieder begegnen uns Verfahren, die in wenigen Minuten ein angeblich treffsicheres Urteil über eine Person fällen. Das mag verlockend klingen, doch eine seriöse Analyse braucht mehr als eine Handvoll Fragen. Warum? Weil echte Potenzialdiagnostik auf wissenschaftlicher Methodik, differenzierter Messung und validen Ergebnissen basiert.

1. Wissenschaftliche Fundierung braucht methodische Tiefe

Gute Potenzialanalysen basieren auf etablierten psychologischen Modellen und theoretischen Grundlagen. Sie messen nicht nur, welche Eigenschaften eine Person hat, sondern wie stabil diese ausgeprägt sind und wie sie sich in verschiedenen beruflichen Kontexten auswirken. Ein Test mit nur wenigen Fragen kann – rein zufällig – zu einem plausiblen Ergebnis kommen, doch ohne methodische Tiefe bleibt er unzuverlässig.

2. Differenzierte Messung statt oberflächlicher Typologisierung

Viele Schnelltests arbeiten mit Typenmodellen, die Menschen in starre Kategorien einordnen: „Der Analytiker“, „Die Macherin“, „Der Visionär“, etc. Solche Modelle sind populär, weil sie eine schnelle Schema-basierte Beurteilung erlauben, haben aber einen entscheidenden Haken: Sie vereinfachen die Realität drastisch und lassen keinen Raum für individuelle Nuancen. Eine fundierte Potenzialanalyse geht tiefer und erfasst nicht nur grobe Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch relevante Kompetenzen, Denkstile und Verhaltensmuster – differenziert und kontextbezogen – wie Menschen eben sind.

3. Zuverlässigkeit und Aussagekraft brauchen Zeit

Ein wesentliches Qualitätsmerkmal einer seriösen Analyse ist die Reliabilität – also die Verlässlichkeit der Ergebnisse. Je kürzer ein Test, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er zufällige oder verzerrte Antworten liefert. Zudem muss ein Verfahren valide sein, also tatsächlich das messen, was es vorgibt zu messen. Ein Schnelltest mit wenigen Fragen kann kaum eine belastbare Aussage über komplexe Fähigkeiten wie strategisches Denken, Entscheidungsverhalten oder Führungskompetenz treffen.

4. Die Bedeutung von kontextuellen Faktoren und Simulationen

Gerade für gehobene Positionen im Management- oder Expertenbereich reicht eine bloße Selbstauskunft nicht aus. Leistungs- und Potenzialdiagnostik sollte neben Fragebögen auch realitätsnahe Simulationsaufgaben oder kognitive Tests beinhalten, um langfristig gültige Aussagen über die berufliche Eignung zu treffen.

In solchen Simulationen können beispielsweise Führungsstrategien durch tatsächliches Handeln beurteilt – anstatt lediglich aus Persönlichkeitsmerkmalen interpoliert werden. Wer in einer Simulation etwa mit einer komplexen Entscheidungssituation konfrontiert wird, zeigt nicht nur, wie er oder sie über Führung denkt, sondern auch, wie er oder sie konkret handelt. Solche Verfahren ermöglichen eine realitätsnähere, objektive Bewertung, die über das hinausgeht, was klassische Fragebögen erfassen können. Schnelltests bieten diese Tiefe bei Weitem nicht.

Fazit: Qualität geht vor Geschwindigkeit

Natürlich wäre es schön, wenn sich Potenzialanalysen in fünf Minuten erledigen ließen. Doch wer Personalentscheidungen trifft, sollte sich fragen: Würde ich eine langfristige Investition allein auf Basis eines kurzen Bauchgefühls tätigen? Wahrscheinlich nicht. Eine fundierte Potenzialanalyse liefert verlässliche, differenzierte und praxisnahe Erkenntnisse – und die sind jede Minute wert, die man in sie investiert. Übrigens: nicht nur für den HR Verantwortlichen, sondern auch für den*die Bewerber*in selbst lohnt sich dies.

Mag. Thomas Webersdorfer, BSc MSc, Wirtschaftspsychologe
Wirtschaftspsychologe

Der Lösung ist es egal, wie das Problem entstanden ist.